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1. Die Transplantation von Organen gilt vielen als eine der wichtigsten Errungenschaften der modernen Medizin. Sie stellt eine Chance dar, das Leben eines Organempfängers zu verlängern und damit das Leben überhaupt zu fördern. Doch damit verbindet sich in der Regel eine Reihe von offenen Fragen zumeist ethischer und praktischer Art. Vor allem die Aufforderung des Gesetzgebers in der Bundesrepublik Deutschland, dass jeder Bürger und jede Bürgerin sich mit der Frage der eigenen Bereitschaft zur Organspende ernsthaft befassen soll, wirft unter den orthodoxen Christen die Frage auf, wie sich die Orthodoxe Kirche in Deutschland zur Organspende und -transplantation verhält. Diese Stellungnahme zielt darauf, eine Hilfe zu leisten, damit sich orthodoxe Christen mit diesen Fragen verantwortungsvoll auseinandersetzen können, so dass Missverständnissen und Missbräuchen vorgebeugt wird.

Theologische Grundlegung

 

2. Aus der Sicht der orthodoxen Theologie sind bezüglich der Frage nach Organspende und -transplantation zwei Grundsätze zu beachten: Erstens hat jeder Mensch als Geschöpf Gottes, das nach seinem Bilde geschaffen wurde (Gen 1,27), einen einzigartigen und unwiederholbaren Wert. Daher ist das menschliche Leben ein Geschenk Gottes und besitzt einen Wert, der vor allem dadurch zum Ausdruck kommt, dass Christus durch seine Auferstehung den Tod überwunden und uns die Fülle des Lebens geschenkt hat: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Jo 10,10). Eine Verlängerung des irdischen Lebens kann prinzipiell dem Menschen die Chance geben, in Christus zu leben, Gott durch die Umkehr näher zu kommen und sich spirituell zu entfalten. Als Christen wissen wir jedoch, dass wir durch die Auferstehung Christi zu einem neuen Leben auferweckt werden: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendsten unter allen Menschen“ (1 Kor 15,19). Zweitens ist der höchste Ausdruck eines Lebens in Christus die Nächstenliebe: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Jo 15,13). Prinzipiell fördert also die Organspende die Nächstenliebe, die jeder orthodoxe Christ zu verwirklichen und zu vertiefen aufgefordert ist, und ist als Liebestat anzusehen, die in der Nachahmung unseres Herrn Jesus Christus bis zur Selbstaufopferung geht.

3. Man mag gegen die Organtransplantation einwenden, dass sie die Identität des Menschen beeinträchtigen könnte. Diesbezüglich muss man festhalten, dass die Identität eines Menschen keine statische Größe ist und sich stets durch äußere Einflüsse verändert. Trotzdem bleibt der Mensch in Harmonie mit sich selbst und als er selbst erkennbar. Sein Leib wird, wie der Apostel Paulus schreibt, ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, „geistlich“ auferstehen (1 Kor 15,44). Dieser Leib bleibt also nach seiner Auferweckung nicht derselbe, obwohl er seine Identität in dem Sinne bewahrt, dass er das Gepräge der menschlichen Person weiter trägt, zu der er vor dem Tod gehörte.

Pastorale und praktische Hinweise

 

4. Gemäß christlicher Lehre ist jede menschliche Person frei und zur Freiheit berufen. Mehrfach betont die Heilige Schrift die enge Verbundenheit von christlicher Freiheit und Liebe: „Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe“ (Gal 5,13). Auch die durch Nächstenliebe bedingte Organspende setzt die freie und bewusste Einwilligung des Spenders voraus. Liegt von der betroffenen Person nach ihrem Tod keine Willensäußerung vor, wendet man sich an einen durch diese Person benannten Menschen oder an Angehörige, die im Sinne des mutmaßlichen Willens der betroffenen Person eine Entscheidung fällen sollen.

5. Auch diejenigen, die keine Organspende gutheißen bzw. keine Organspender werden möchten oder Bedenken gegenüber einem Kriterium zur Feststellung des Todes haben, müssen aufgrund dieser Gewissensfreiheit respektiert werden und dürfen keineswegs wegen mangelnder Nächstenliebe verurteilt werden.

6. Die Tatsache, dass die Angehörigen einer toten Person unauffindbar oder nicht mehr am Leben sind, darf kein Grund dafür sein, diesen Menschen für die Organentnahme frei zu geben. Dies hat vor allem im Fall von sozial Schwachen, Obdachlosen oder illegalen Einwanderern Gültigkeit. Auch die nicht erfolgte Äußerung einer Transplantationsgenehmigung seitens der Verwandten darf nicht als Einwilligung gedeutet werden. Deshalb begrüßt die Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland die Aufforderung des Transplantationsgesetzes, dass man sich bereits ab dem 16. Lebensjahr mit dem Gedanken, Organspender zu werden, befassen und gegebenenfalls einen Organspendeausweis besitzen soll, um jede Willkür und die Überforderung der Angehörigen zu vermeiden.

7. Auch die Organspende einer lebenden Person, wie dies in bestimmten Fällen vom Transplantationsgesetz vorgesehen ist, z.B. im Falle der Spende einer Niere, ist als Ausdruck tätiger Nächstenliebe zu verstehen.

8. Begleitet werden muss die Organspende und -transplantation auf jeden Fall von einem respektvollen Umgang durch das verantwortliche medizinische Team gemäß den allgemein anerkannten ethischen Prinzipien der Medizin. Die Ärzte haben die Pflicht, alle Beteiligten (Spender, Empfänger, Angehörige) über Verfahren, Probleme, Chancen und Risiken einer Transplantation gut zu informieren, damit diese eine wohl überlegte Entscheidung treffen können. Nicht im Sinne der Nächstenliebe zu begründende Interessen dürfen nicht den Ausschlag für eine Organspende geben.

9. Im Falle einer Organspende von Verstorbenen muss der Tod eindeutig festgestellt werden und eine Einwilligung vorhanden sein. Als medizinisches Kriterium zur Feststellung des Todes wird heute weitgehend der Hirntod akzeptiert, der als der Zustand der unumkehrbaren (irreversibel) erloschenen Funktionen des gesamten Gehirns definiert wird. Die Feststellung des Todes gehört juristisch zum Zuständigkeitsbereich der Medizin und ist nach dem heutigen Stand der medizinischen Erkenntnisse im Transplantationsgesetz festgehalten. Eine korrekte Feststellung des Todes ist von höchster Bedeutung, um Fehldiagnosen und möglichen Missbrauch zu vermeiden.
Für manche orthodoxe Christen ist das Kriterium des Hirntodes fragwürdig, denn sie sehen in der Herzfunktion und in anderen Funktionen des Körpers wie Atmung ein Zeichen der Anwesenheit der Seele. Trotz dieser Diskussion betrachtet die orthodoxe Kirche das oben angeführte Kriterium des Hirntodes als hilfreich. Jeder Mensch, der Zweifel an diesem Kriterium hat, muss die Freiheit haben, sich selbst für oder gegen eine Organspende zu entscheiden.

10. Der Mensch, der auf ein Organ wartet oder es empfangen hat, braucht besondere Zuwendung und Unterstützung. Er soll über die Kriterien einer Organverteilung, z.B. Dringlichkeit und Wartezeit, sowie über die Erfolgsaussichten und Risiken informiert werden. Ärzte, Verwandte, Priester und andere Seelsorger können ihn begleiten und ihm dabei helfen, die Belastungen, etwa die Abhängigkeit des eigenen Wohls vom Tod eines anderen Menschen oder die Angst vor einer Abstoßreaktion, zu verarbeiten. Transplantationszentren sind dazu verpflichtet, jede Diskriminierung bei der Organverteilung, etwa auf der Basis von Rasse, Religion, sozialem Stand oder wirtschaftlichem Niveau, zu vermeiden.

Fazit

 

11. Die Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland versteht die Organspende als eine Form der Nächstenliebe in der Nachahmung Christi und betrachtet die Organtransplantation als eine gut zu heißende Möglichkeit zur Verlängerung des irdischen Lebens, da das Leben Geschenk Gottes und kostbares Gut ist. Zugleich respektiert sie die Freiheit eines jeden Menschen, sich gegen die Organspende zu entscheiden. Sie begleitet in Liebe alle, die auf eine Organspende angewiesen sind, und möchte Ärzte, Pflegepersonal, Angehörige und Seelsorger in dieser nicht einfachen Frage unterstützen.

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* Erarbeitet von der Theologischen Kommission der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland und verabschiedet von den H.H. Bischöfen bei der Vollversammlung in Berlin am 22. Februar 2014.

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